Die Kunst der Tugend oder die Tugenden der Kunst? Das Motto des diesjährigen Festivals ist ein Wortspiel, dessen leicht fehlerhaftes Latein durchaus Absicht ist. Die Virtutes, die Tugenden, sind im Mittelalter mannigfaltig und – zumindest auf dem Pergament, welches bekanntlich geduldig ist – hoch geschätzt. Ein Herr von Stand, ein Ritter, befleißigte sich dem Ideal zufolge solcher Tugenden wie Treue (sowohl seinem Lehnsherren als auch sich selbst gegenüber), Frauendienst, Höflichkeit, Tapferkeit und Beständigkeit, um nur eine Auswahl zu nennen. Tugenden finden sich auch in großer Zahl bei Hildegard von Bingen. Dort werden die Tugenden regelrecht personifiziert und haben auch jeweils eine Gegenspielerin. Humilitas (Demut) gilt hier als die Königin der Tugenden, deren Antagonistin die Superbia (Hochmut) ist. Ebenso im Reigen der Virtutes vertreten sind Patientia (Geduld) und Constantia (Beständigkeit).
Wenn wir heutzutage in der Musik von Virtuosität sprechen, davon, das ein Musiker besonders virtuos spielt, denken wir zunächst daran, dass dieser besonders schnell und ausgezierte Melodien spielt. Doch das ist nur ein Aspekt der Virtuosität. Ich denke, es gibt bei der Betrachtung von Virtuosität zwei Ebenen: da ist zum einen die Musik der originalen mittelalterlichen Quellen selbst. Die Dichter*innen und Komponist*innen waren oft herausragende und stilgebende Persönlichkeiten. So sprengte z. B. Hildegard von Bingen mit ihrer Musik den Rahmen des damals üblichen Chorals in einzigartiger Weise. Auch Francesco Landini und Johannes Ciconia schufen musikalische Werke von außerordentlicher Komplexität, deren Interpretation – und damit kommen wir zur zweiten Ebene – eine ausgesprochene Kunstfertigkeit der damaligen und heutigen Ausführenden verlangt. Im Laufe der letzten 30 Jahre haben auf der Bühne von montalbâne unzählige Musiker*innen und Ensembles gespielt und ihre Kunstfertigkeit unter Beweis gestellt. Entsprechend schwer fiel es, dieses Jahr Künstler*innen auszuwählen, welche die verschiedenen Aspekte von Virtuosität in besonderer Weise darstellen. Neben den Schnellspielern, den »Flitzefingern«, wird es Konzerte geben, bei denen es die genaueste Kenntnis, die tiefe Verinnerlichung und Vertrautheit mit den Quellen den Künstler*innen erlaubt, sich frei im musikalischen Material zu bewegen. Ad hoc während des Konzerts im Kopf so genannte Stilkopien zu komponieren: zu improvisieren ohne zu improvisieren sozusagen. Oder – um es poetisch analog dem mittelalterlichen Kunstverständnis zu betrachten – einfach das Medium sein, durch das die Musik aus dem Damals in das Heute fließt. In anderen Konzerten singen die Musiker*innen und spielen gleichzeitig ihre Instrumente – und zwar durchaus auch verschiedene Stimmen.
Den Zusammenhang von Tugend und Kunstfertigkeit erkannte schon im Mittelalter Johannes de Grocheo, welcher in seinem Traktat »De Musica« über die Estampie bzw. Istampitta schrieb, dass die Ausführung eines solchen Stückes besonders jungen Menschen empfohlen werde, um sie von Lastern abzuhalten, denn das Spielen
einer Istampitta erfordert nicht nur eine gewisse Fingerfertigkeit, sondern außerdem ein gehöriges Maß an Konzentration, um den Faden in der Struktur des Stückes nicht zu verlieren. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, eine Istampitta zu spielen – das muss man wirklich wollen. Man muss dran bleiben. Und hier kommt schließlich alles zusammen: um zur Virtuosität zu gelangen, wie sie dieser Tage bei montalbâne zu hören sein wird, bedarf es einiger Tugenden: Beständigkeit und Patientas, dicht gefolgt von der Humilitas, der Demut vor dem Werk, der Meisterschaft der Komponist*innen des Mittelalters.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Festival montalbâne, begleitet von Pax und Concordia.
Martin Uhlig
Grafiker, Musiker, Instrumentenbauer und Koordinator Öffentlichkeitsarbeit bei montalbâne